Natalija Vladisavljević ist eine Autorin, Choreografin und Performerin aus Serbien. Sie arbeitet seit fast 20 Jahren mit der Organisation Per.Art zusammen. Nachdem sie schon mehrere Texte geschrieben hatte, auf denen Performances von Per.Art basierten wie z.B. den ersten Akt für die Performance „Dis_Sylphide – Hexentanz reconstruction“, schrieb sie nun die kompletten Scores für „Dance in the 21st Century“, welches auf ihren Ideen aufbaut. Wir haben die Aufführung am 13.11.2022 gemeinsam im HAU 1 in Berlin gesehen.
Die Organisation Per.Art ist 1999 von Saša Asentić, der bei „Dance in the 21st Century“ ebenfalls mit auf der Bühne zu sehen ist, gegründet worden. Per.Art ist eine unabhängige Organisation, die sich in Novi Sad und darüber hinaus für die internationale Szene der Disability Arts einsetzt.
In „Dance in the 21st Century“ geht es, wie der Name schon sagt, um Tanz im 21. Jahrhundert. Zu Beginn ist die Bühne dunkel. Wir sehen aber bereits Natalija Vladisavljević in einem roten T-Shirt seitlich zum Publikum sitzend. Als es losgeht, knipst sie eine Lampe an, steht auf und tritt vor ein Mikrofon in der Mitte der Bühne. Dort liest sie uns ihre Gedanken zum Stück vor, widmet das Stück den Zuschauenden und leitet so den Abend ein. Natalija Vladisavljević sagt, dass es Tanz- und Musikimprovisationen sowie „zeitgenössischen Tanz ohne Musik“, aber auch „zeitgenössischen Tanz ohne Tanz“ geben wird.
Jelena Alempijević fällt förmlich auf die Bühne. Begleitet von nächtlichen Waldgeräuschen tanzt sie als hätte sie keine Knochen. Sie wird abgelöst von Željka Jakovljević, die ihre langen Haare schwingt, was einen tollen Effekt erzeugt bis Alexandre Achour mit einem Schütteltanz alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nachdem Dunja Crnjanski, die in dem Stück sowohl als Performerin als auch Pianistin agiert, den Tanz schematisch in seine Einzelteile zerlegt, werden assoziativ 100 Wörter über Tanz genannt. Dann wird der Prozess der Entwicklung einer Szene zunächst besprochen und kurz darauf umgesetzt.
In „Dance in the 21st Century“ wird allerdings nicht nur abstrakt-konzeptionell gearbeitet. Auch finden immer wieder emotionale Momente ihren Weg in die tänzerischen Erzählungen und erzeugen – zumindest bei uns – mitunter auch eine bedrückende Stimmung. Beispielsweise wenn Saša Asentić von einem Freund erzählt, der für sein Tanzen ins Gefängnis musste.
Natalija Vladisavljević leitet das Ende der Performance mit einem Text ein, in dem sie davon spricht, wie sie bei ihrer ersten eigenen Performance am Ende allein auf der Bühne steht und den Schwan aus „Schwanensee“ tanzt. Wie sie den Zuschauenden berichtet, will sie damit Menschen inspirieren, sich das auch zuzutrauen. Dieser Text geht über in Tschaikowskis berühmte Ballettmusik und Natalija Vladisavljević interpretiert das Stück auf eine zeitgenössische, eigene Art. Dabei ist sie umgeben von vier Tänzerinnen, die nacheinander von der Bühne abgehen, bis sie schlussendlich allein, beleuchtet von einem Spot, zurückbleibt.
Die Begrüßung von Natalija Vladisavljević zu Beginn und ihre Dankesworte nach der Performance spannten eine Art Rahmen um den Abend, und vermittelten uns das Gefühl, richtig mitgenommen zu werden in ihre Arbeit. Was uns auch besonders gut gefallen hat an dem Abend war das Spiel mit unterschiedlichen Eindrücken und Tempi. So waren mal alle Tänzer*innen auf der Bühne oder auch nur einzelne, mal durcheinanderlaufend entweder zu einem lauten Beat oder auch zu ruhigen atmosphärischen Geräuschen oder Klaviermusik. Es wurde zudem mit Licht und Klang gearbeitet und alle Gegenstände auf der Bühne konnten so auf unterschiedlichste Art und Weise in Bewegungsabläufe einbezogen werden. So wurde z.B. eine Art Lichtrahmen aus LEDs auf der Bühne aufgebaut oder drei der Tänzer*innen stellten sich an das Klavier und zupften an dessen Saiten.
„Dance in the 21st Century“ war außerdem die barriereärmste Performance, die wir je erlebt haben. Viele Texte wurden auf Serbisch vorgelesen oder hörbar gemacht, es gab eine englische und eine deutsche Übertitelung sowie einen Gebärdensprachendolmetscher, der die ganze Performance über auf der Bühne stand und übersetzte. Aber nicht nur wurde die Performance durch die verschiedenen Sprachen für möglichst viele Menschen zugänglich gemacht, auch gab es am Eingang die Möglichkeit, sich einen Luftballon zu nehmen, um z.B. auch für nicht-hörende Gäste die Vibrationen der Musik spürbar zu machen sowie die Möglichkeit für ein Early Boarding.
Als wir aus der Performance rausgegangen sind, war unser erster Gedanke, dass dies ein Abend ist, den man sich auch öfter anschauen kann. Jedes Mal könnte man etwas Neues entdecken. Möglicherweise sollte man sich die Performance sogar mehrmals anschauen, da so viel gleichzeitig passiert ist, was wir alles gar nicht auf einmal wahrnehmen und begreifen konnten. Da waren zum einen die Texte, die unterschiedlichen Sprachen, aber auch die Musik und der Tanz. Außerdem auch die verschiedensten Bezüge zu Personen wie der Choreografin Martha Graham oder zum Ballett „Schwanensee“. Wir haben uns immer bewusst auf eine Sache konzentriert, in dem Wissen, dabei eventuell etwas anderes zu verpassen.
Die vielen nachdenklich wirkenden, auch lyrischen Texte und Geschichten gewährten einen Einblick in Natalija Vladisavljevićs Arbeit als Künstlerin und Choreografin. Dies hatte etwas sehr Bewegendes. Dass Natalija Vladisavljević einen kompletten Abend mit Texten, Musik und Choreographie gestaltet, markiert auch, wofür Per.Art steht: für das Engagement, dass mehr Künster*innen mit Behinderung oder Lernschwierigkeiten nicht nur in Produktionen ‚inkludiert‘, sondern selbst leitend und gestaltet, auch in einer Führungsposition, tätig werden.