Gespräch zu „Het Kraakpand“ von Theater Stap

Lena Jabrane: Wir haben jetzt schon einige Vorstellungen beim NO LIMITS Festival gesehen. Was hat „Het Kraakpand“ von Theater Stap in deinen Augen von anderen unterschieden?

Julia Arif: Zunächst war der Ortswechsel zwischen der Aufführung auf der großen Bühne im Theater RambaZamba, zur Tanzperformance in der Studiobühne und im Anschluss zur Filmvorführung wieder auf die Hauptbühne zurück ungewöhnlich. Es war aber auch angenehm, weil wir das Gesehene so kurz sacken lassen konnten und uns auf den nächsten Programmpunkt vorbereiten konnten.

Lena: Das ging mir auch so. Das Durchatmen hat mir geholfen, den ereignisreichen Abend zu strukturieren. Die dreiteilige Werkschau verschiedener Arbeiten des belgischen Theater Stap begann mit der Aufführung „Sea of Love“, dann wurde die Tanzperformance „Blade Racer“ gezeigt und abschließend noch der Film „Downside Up“. Während der Pausen haben wir teilweise die Spieler*innen auf den Gängen getroffen…

Julia: …das hat zu einer Atmosphäre von Vertrautheit beigetragen. Der Abend war generell von einer offenen und herzlichen Stimmung geprägt. Wir waren gefühlt Teil des Ganzen und nicht nur Publikum. Die Aufhebung der Trennung zwischen Akteur*innen und uns fühlte sich an wie ein Besuch backstage.

Lena: Diese zurückgenommene Trennung zwischen Bühne und Publikum war besonders auch bei der Titanic-Szene in „Sea of Love“ auffallend. Der Zuschauerraum wurde wie die Bühne selbst beleuchtet, sodass der Raum zu einer gemeinsamen Bühne wurde. Könnte man die Titanic-Szene als Höhepunkt der Inszenierung oder des gesamten Abends beschreiben?

Julia: Es war auf jeden Fall ein sehr bewegender Moment. Alle Spieler*innen standen am vorderen Bühnenrand und haben die berühmteste Szene aus dem Film „Titanic“ nachgespielt.

Lena: Wodurch war die Szene für dich bewegend?

Julia: Ich denke, es war ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Auslöser: zum Beispiel durch die wiederholt auftretenden, intermedialen Verweise auf die tragische Liebesgeschichte von Rose und Jack aus dem Hollywood-Film „Titanic“; wenn ihre Stimmen aus dem Off zu hören waren oder der berühmte Song von Celine Dion. Aber auch durch die Darbietung der Schauspieler*innen auf der Bühne. Sie breiten vor uns ihre Arme in einer offenen Geste aus.

Lena: Und bringen uns damit auch Vertrauen entgegen. Meiner Einschätzung nach war das der Grund, warum die Schauspielerin Els Laenen anfing zu weinen. Während wir uns gegenseitig anblicken, kommt ein Gefühl von Verbindung auf. Sei es konkret im Raum, sei es über die Referenz zum Film.

Julia: Ihr Weinen habe ich als inszeniert wahrgenommen, schließlich könnte sie in der Szene Rose verkörpert haben.

Lena: Ja, das ist auch möglich. Für mich wirkte es eher wie ein Herausfallen aus der Rolle, weil sich die anderen Spieler*innen danach bei ihr erkundigt haben, ob alles ok ist.

Julia: Das war für mich ein Indiz für den unterstützenden Umgang, den die Gruppe miteinander hatte. Es stehen zwar auch kurz einzelne Schauspieler*innen im Fokus, aber im Ganzen ging es für mich um die Gruppe als harmonische, sehr gut koordinierte Einheit.

Zwei Darsteller*innen stehen von den anderen Mitglieder*innen des Kollektivs umzingelt auf einer Box auf der Bühne. Eine*r in Tüll gehüllt, andere*r vorlesend mit einem Zettel in der Hand. Peter Janssen sitzt hinter seinem Synthesizer, gekleidet in Jogginghose und Pelzmantel, und performt.
Theater Stap bei der Vorpremiere von „Sea of Love” als Teil von „Het Kraakpand“ in Berlin, Foto: Michael Bause

Lena: Das ging mir ähnlich. An der Verwendung des titelgebenden Songs „Sea of Love“ von Phil Phillips hat sich das für mich ebenfalls gezeigt. Er wurde immer wieder in verschiedenen Tempi und Versionen eingespielt: zunächst leise im Hintergrund wie von einem Handy abgespielt, dann laut von den Lautsprechern auf der Bühne, teilweise wurde dazu getanzt und gesungen. Das Lied zog sich fast wie ein roter Faden durch den ersten Teil der Aufführung. Es folgte ein Remix, in dem alle Passagen verzerrt zu dem gesamten Song zusammengefügt wurden. Mit diesem Aufbau wurden auf der Klangebene auch viele Stimmen zu einem gemeinsamen Kanon.

Julia: Auch bei den Kostümen gab es ein verbindendes Element. Während es viele Kostümwechsel auf der Bühne gab, behielten alle ihre Nike-Trainingskleidung mit der Aufschrift „Just do it“ darunter an. Ich interpretiere das als eine Anspielung auf den wachsenden Leistungs- und Selbstoptimierungsdruck in unserer Gesellschaft, immer besser und effizienter zu sein. Wenn eine Schauspielerin im Rekordtempo 10 Nike Shirts übereinander zieht, wird dieser Druck spürbar und zugleich auch ironisiert.

Lena: Andererseits kann man den Nike-Slogan auch im Sinne von „Es ist egal“ verstehen: Mach das, was du willst, egal was andere davon halten, just do it…

Julia: Das stimmt. Und wie hast du die Verbindung der beiden verarbeiteten Geschichten von Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ und „Titanic“ verstanden?

Lena: Die Geschichte der kleinen Meerjungfrau endet in der Inszenierung in einer Symbiose mit der bereits beschriebenen „Titanic“-Szene. Die Meerjungfrau wird von ihrem Prinzen verstoßen, weil sie aus einer anderen Welt ist. Im Gegensatz dazu sagt Jack zu Rose, die für ihn auch aus einer anderen Welt (im Sinne sozialer Schicht) kommt, dass sie einfach ihre Augen schließen und ihm seine Hand geben soll.

Julia: Aber zum Schluss sind trotzdem beide allein: der Prinz heiratet eine andere Frau und Jack stirbt.

Tür auf, Treppe runter und wir sitzen vor der nächsten Bühne.

Peter Janssen im Tanzstück „Blade Racer“ im Rahmen von „Het Kraakpand“, Foto: Holger Rudolph

Lena & Julia: Der „unglaubliche Peter“ sitzt vor uns an seinem Synthesizer. Was bei seiner Performance „Blade Racer“ geschieht, kann man als ein Zusammenspiel von Tanz-Improvisation, Humor und Energie beschreiben. Mal dreht er sich schnell im Kreis, verstreut Konfetti über sich und die Zuschauer*innen in der ersten Reihe, mal bedient er ein E-Piano, auch mit seinen Füßen und mit seinem Gesicht. Peter Janssens Technobeats klingen aus, er ist versteckt unter seinem Pelzmantel, das Licht erlischt: Applaus!

Tür auf, Treppe hoch und wir denken, wir sitzen wieder vor der ersten Bühne – doch sind wir in einem Kinosaal.

Lena & Julia: Auf der Leinwand erkennen wir viele Darsteller*innen wieder, die zu Beginn des Abends bereits live vor uns standen. Der Kurzfilm „Downside Up“ ist eine weitere künstlerische Arbeit vom Theater Stap in der Regie von Peter Ghesquiere. Wir wollen nicht zu viel verraten (der Film ist online bei Youtube zugänglich), aber er hat gezeigt, dass jeder Mensch, egal wie er geboren wurde, Einfluss darauf haben kann, die Welt für alle ein bisschen besser zu machen. Vielleicht können wir gut Schnürsenkel binden, dafür aber nicht annähernd so gut spielen.