Mit der kollaborativen Produktion „Das Narrenschiff“ von Monster Truck und Platform-K aus Belgien feiert das Theaterfestival NO LIMITS am Mittwochabend seinen Auftakt am HAU1. Auf der Bühne stehen zehn Performer*innen mit und ohne Behinderung vom Ensemble Platform-K und fusionieren Elemente von Tanz, Theater und Performance.
Langsam treten nach und nach zehn Performer*innen von beiden Seiten des Parketts aus auf und ordnen sich auf der Bühne an. Gekleidet sind sie in schwarz und neon grün. Die Outfits erinnern an die Technoszene, wir sehen Harnesse, Hosen mit Aussparungen, Cropped Tops und Oberteile in Fischnetz-Style. Hinter ihnen steht eine lange Tafel mit samtig glänzendem Tischtuch, Nebel steigt gespenstisch auf und ein bassiger Sound liegt über der Szenerie. Der Blick der Performer:innen ist ins Publikum gerichtet und wird nicht gebrochen, auch nicht als alle langsam an der langen Tafel Platz nehmen, die nun zwischen uns und ihnen liegt. Der Klang schnarrt und schnallt, ein dumpfes Pochen ertönt, die Klänge übersteuern und dann: Stille. Über ihnen blitzt ein Bildschirm auf, weiße Schrift auf schwarzem Grund fungiert als Sprachrohr für die Gruppe. Als würden viele Personen zu einer Stimme werden.
Zu Anfang werden die Formalien geklärt: „Es gibt kein Schiff. Und es gibt keine Narren. Nur ihr und wir.“ Narrenschiffe sind ein Konstrukt aus dem Mittelalter. Behinderte Menschen wurden damit aufs Meer gebracht und dem Tode überantwortet, so heißt es in der Stückankündigung. Doch darum soll es nicht gehen, ebenso wenig wie darum, wo Diskriminierung heute stattfindet. Denn dies stellt die Projektion klar. „Wir sind nicht süß, elendig, bemitleidenswert traurig und dumm“.
Das Kollektiv will feiern. Alle fangen an, Chips zu essen; dabei läuft elektronische Musik. Die stimmlosen Worte der Projektion necken das Publikum, es ist nicht eingeladen, dabei zu sein. Wie von einem gemeinsamen Gedankenstrom geleitet, baut die Gruppe jedes Bild langsam auf und steigert es dabei ins Exzessive. Sie tanzen, überall sind Chips, Körper, Berührungen. Wie ein Einblick in einen exklusiven Club, in den einem*einer kein Eintritt gewährt wird. Drastisch wird das orgiastische Festmahl beendet, die Musik klingt seltsam leiernd und aus grünen Flaschen übergeben sich die Feierwütigen, die eben noch grazil und sinnlich waren, lauthals.
Der Abend lebt von extremen Umschwüngen, die immer wieder schockieren und überraschen. Was sonst vor der Öffentlichkeit verschlossen bleibt, wird mit hoher Intensität offenbart. Es geht ums sich-zeigen und körperlich sein. Bedürfnissen nachzugehen, ohne sich verurteilt, sondern stattdessen selbstermächtigt zu fühlen. Keine äußeren Einflüsse können die Gruppe aus dem Gleichgewicht bringen, so scheint es. Ähnlich wie in einem Club, in dem man sich fallen lassen darf, da er einen Ort außerhalb der Normen der Gesellschaft schafft.
Auf einmal lachen alle, denen eben noch übel war. Ein großes Mikro wird ihnen entgegen gehalten und ein Klangteppich aus lautem Gelächter und Stimmen entsteht. Stimmen, die wir an diesem Abend noch nicht gehört haben. Und dann teilt sich die Gruppe zum ersten Mal. Eine Performerin benutzt nun einen Rollstuhl, die anderen setzen sich Rattenköpfe auf. Sind sie die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen? Doch da ist kein Schiff. Sie sind die Wesen der Nacht, sie sind viele und gemeinsam unterwegs. Die Ratten stehen der Rollstuhlfahrerin gegenüber, es hat etwas Bedrohliches. Doch sie lachen einander nur an, in das riesige Mikrofon. Auf dem Screen wird das Lachen übersetzt, sie überlegen, was sie nun machen wollen.
Die Frau im Rollstuhl entscheidet, sie möchte jetzt Sex. Um sie herum bildet sich ein Tanzkreis und zu schneller, sich steigernder Musik führen die Performer*innen noch explizitere Bewegungen durch, allein, mit- und aneinander. Die Szenerie endet mit orgasmischen Schreien und dem Platzen eines Ballons, der über eine langen Schlauch mit der grünen Flüssigkeit gefüllt wurde, die wir bereits als ausgeschiedene Körperflüssigkeit gesehen haben. Wie eine schnell durchlebte Schwangerschaft und das Platzen der Fruchtblase. Auf niederländisch spricht die Performerin im Rollstuhl den ersten hörbaren Text an diesem Abend, der an dieses Bild anknüpft. Es geht um Gedanken zum Thema (keine) Kinder bekommen. Sie spricht dabei nicht zwingend von sich, sondern nutzt das kollektive „we/wir“ und kommt zu dem Schluss: „Whatever, that‘s life“, woraufhin schneller und pulsierender Techno gespielt wird. Schlagartig wird es dunkel und die Beleuchtung ist wie in einem Club, grünes Laserlicht und Flackern lässt die schemenhaften Körper aufblitzen, die sich wie energetisch geladen zum Beat bewegen. Aus dem Publikum hört man Jubeln und Rufe der Begeisterung zu diesem gewaltigen Schlusstableau.
Gewaltig bleiben sie auch in Erinnerung, die Bilder, die geschaffen wurden. Bilder, die von Kollektivität und Gemeinsamkeiten erzählen, die Rausch und Ekstase verkörpern. Die Performer*innen lassen über die Projektion eine selbstbewusste Kollektiv-Stimme für sie sprechen und haben keine Scheu, vor den Augen anderer intim zu sein und sich mit ihren Körpern auseinanderzusetzen. Gefühle und Bedürfnisse werden akzeptiert. Monster Truck und Platform-K gelingt es, mit „Das Narrenschiff“ eine Welt zu schaffen, in der Freiheit und Selbstermächtigung gelebt werden. Mit ihrer hohen Energie und Präsenz machen die Spieler*innen den menschlichen Drang, sich auszuleben und Spaß zu haben spürbar. So entdeckt man nicht wenige Menschen im Publikum dabei, in ihren Stühlen mitzutanzen. Denn diese Ausgelassenheit ist ansteckend.