In Zukunft mit vielen Stimmen

„Die vielen Stimmen meines Bruders“ ist ein Stück, das von der Dramatikerin Magdalena Schrefel in Zusammenarbeit mit ihrem Bruder Valentin Schuster geschrieben und als Gastspiel des Schauspielhauses Wien am 20. November 2024 im Rahmen von NO LIMITS im Berliner Theater Thikwa aufgeführt wurde. Die Inszenierung kombiniert Elemente von Schauspiel, Puppenspiel, Video und Hörspiel. Unter der Regie von Marie Bues und Anouschka Trocker sowie mit Kostümen und Bühnenbild von Heike Mondschein entsteht eine Aufführung, die die Herausforderungen und Möglichkeiten, die mit einem zukünftigen Verlust der Stimme einhergehen, beleuchtet.

Identität der Stimmen: Ein Dialog zwischen Geschwistern

Die Aufführung beginnt auf einer minimalistisch gestalteten Bühne, mit einem blauen Hintergrund, einem etwas erhobenen, gut beleuchteten Platz mit einem Stuhl auf der rechten Seite und einer kleinen Plastikfigur im Hintergrund. Die beiden Darsteller*innen Leonard Grobien und Katharina Halus kommen auf die Bühne, und ein Dialog zwischen Bruder und Schwester entfaltet sich. Dieser beleuchtet die Herausforderungen der Kommunikation zwischen den ungleichen Geschwistern. Der Bruder ist wegen eines Gendefekts bald auf eine künstliche Stimme angewiesen, und äußert den Wunsch nach mehreren Stimmen als Ersatz. Er fragt sich, ob es Stimmen geben könne, die mit ihm zusammenwachsen und für unterschiedliche Situationen in seinem Leben passen könnten.

Die Geschwister sitzen auf dem Boden und hören sich eine Kassette auf einem Kinderabspielgerät mit der Stimme des Bruders aus seiner Kindheit an.
Nochmal die eigene Stimme aus der Kindheit hören, Foto: Michael Bause

Die Schwester, die zugleich Autorin, Erzählerin und Dialogpartnerin, beleuchtet nicht nur die Perspektive ihres Bruders, sondern reflektiert auch über ihre eigene Rolle in dieser Beziehung und in dem Stück. Es entsteht ein Austausch über Repräsentation und die Frage, wer das Recht hat, (s)eine Geschichte zu erzählen. Der Bruder konfrontiert sie mit dem Vorwurf, dass es mehr um den Blick seiner Schwester auf ihn gehe als um ihn und seine eigene Geschichte. Gemeinsam hören sie eine Aufnahme seiner Stimme als Kind, wodurch sich der Kontrast zwischen dem Bruder und der sich verantwortlich fühlenden Schwester verstärkt. Sie führen so eine komplexe Dynamik einer Geschwisterbeziehung vor, wie sie in vielen Familien vorkommt.

Die Suche nach der eigenen Stimme 

Der Bruder wünscht sich keine rein funktionale Stimme, sondern eine, die seine Persönlichkeit widerspiegelt, oder eben die vielen Facetten seiner Persönlichkeit. Im Stimmlabor wird ihm ein iPad als Ersatz angeboten. Seine Ablehnung („Ich möchte nicht wie eine Maschine sein, sondern eine menschliche Stimme haben“) und der Wunsch nach einer starken Stimme für jeden Montag und auch einer so verführerischen wie der von Ryan Gosling drückt den Wunsch nach Selbstbestimmung aus. Die Idee einer zukünftigen Stimmenvielfalt wird hier aus meiner Sicht auch als Metapher für die Vielschichtigkeit menschlicher Identität genutzt, deren Anerkennung sich der Bruder wünscht.

Die beiden sitzen gemeinsam auf einem Podest und sprechen miteinander. Der leere Rollstuhl steht links von ihnen. Sie führen ein Gespräch.
Leonard Grobien (li) und Florentine Krafft (re) in “Die Stimmen meines Bruders”, Foto: Michael Bause

Humorvolle Momente schaffen ein Gleichgewicht zu den alltäglichen Barrieren im Leben mit einer Behinderung. „Das Leben ist nicht nur Arbeit“, heißt es, sondern die Suche nach Freude und Lebendigkeit. Der Bruder reflektiert auch über den Kontrast zwischen seinen Wünschen und den realen Möglichkeiten, was zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept von „Normalität“ führt. Mit der Aussage: „Es gibt in unserer Familie unterschiedliche Körpergrößen…,  aber es gibt nur einen Behinderten“ bringt er sein Gefühl der Isolation zum Ausdruck. Auch hier zeigt sich der doppelte Boden, wenn sich der Bruder eine starke Stimme für die Zukunft.

Die Inszenierung zeigt für mich nicht nur einen persönlichen Fall, sie stellt auch einen Kommentar zur gesellschaftlichen Repräsentation von Menschen mit Behinderungen dar. Dabei geht es ‚nicht nur‘ um physische Herausforderungen, sondern auch um das Bewältigen sozialer und emotionaler Barrieren, die eben gerade auch in Familien existieren.