„¿Ser o no ser? (Sein oder Nichtsein?)“ Wer weiß, wie oft wir diese Frage in unserem Leben schon gehört haben – die Frage nach der Existenz, die Frage, die Shakespeare um 1600 gestellt hat, die Frage, die sich seither immer wieder in Literatur und Kunst mit Eindringlichkeit gestellt wird. So auch in der „Hamlet“-Inszenierung vom peruanischen Teatro La Plaza, das von Chela de Ferrari mit einer großartigen achtköpfigen Besetzung inszeniert wurde. Was bedeutet „sein“ für diejenigen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, die kaum Raum finden, Teil der Gesellschaft zu sein?
Das Stück „Hamlet“, das zum Repertoire des Teatro La Plaza gehört, einer Theatergruppe, die sich zum Ziel gesetzt hat, durch Infragestellung, Provokation und Überraschung eine Beziehung zu ihrem Publikum aufzubauen, wird von acht Schauspieler*innen mit Down-Syndrom gespielt und erfüllt auf wunderbare Weise alle selbst aufgestellten Prinzipien. Wir sehen hier keine klassische „Hamlet“-Adaption auf der Bühne. Cristina León Barandiarán, die während des gesamten Stücks als Erzählerin fungiert, warnt uns gleich zu Beginn: Nein, wir werden heute Abend keinen „Hamlet“ sehen. Aber wir werden unsere Schauspieler*innen dabei beobachten, wie sie sich selbst in Frage stellen, indem sie Hamlets Fragen nach dem Sein aufgreifen, vertiefen, und auf die Probe stellen. Zu Beginn der Inszenierung spielt deshalb die gesamte Besetzung zeitweise Hamlet. Jaime Cruz’ Antwort auf Cristina León Barandiaráns Frage „Wer bist du?“ gibt einen Hinweis auf ihren konzeptionellen Zugriff: “Ich bin Jaime, aber ich bin auch Hamlet.” Thematisch wird damit auch eine Infragestellung neurodiverser Existenz in einer neurotypischen Welt – gerade mit Blick auf den Theaterkanon.
Wenn wir nochmals an den Anfang der Inszenierung zurückkehren, sehen wir als Erstes die Frage „¿Quién anda ahí? (Wer ist da?)“ auf dem T-Shirt einer der Schauspieler*innen. Diese Frage, die die erste Zeile von Hamlet ist, wird während des gesamten Stücks an uns, das Publikum, gerichtet. Damit verliert das Ensemble nie die Beziehung zum Publikum, bezieht uns mit ihren Fragen immer wieder konsequent ein. Das Stück entlarvt nicht nur die Unterdrückung, die Menschen mit Beeinträchtigungen auf der Achse Familie-Gesellschaft widerfährt, sondern fordert die Zuschauer*innen auch auf, sich selbst als mögliche ‚Täter*innen‘ in Frage zu stellen. Die Inszenierung, die ihren aktivistischen Charakter nie aus den Augen verliert, betont gleichzeitig in jeder Szene den Wert von „Solidarität“. Verhöre, die auf einer persönlichen Ebene beginnen, werden kollektiv analysiert, und fordern damit Solidarität unsererseits ein.
Während des gesamten Abends werden also Fragen gestellt wie „Welcher Hamlet soll gespielt werden?“ oder „Welchen Hamlet würden wir als Schauspieler*innen mit Down-Syndrom spielen?“. Und es wird spielerisch nach Lösungen gesucht, die auf den Prinzipien der Individualität und Einzigartigkeit basieren. Während einer der Schauspieler*innen versucht, einen Hamlet zu spielen, indem er Laurence Oliviers Spielweise kopiert, kritisiert der auftretende Alvaro Toledo dies und fordert dazu auf, Hamlet auf eine ganz eigene Weise zu kreieren und nicht zu imitieren. Und dann wir werden Zeug*innen dieser kollektiven Kreation, in die das Publikum aktiv miteinbezogen wird. Während Shakespeares Stücke entweder mit einer Hochzeit oder einer Beerdigung enden, sehen wir hier einen anderen Vorschlag: Party! Am Ende kann jede*r einen Platz auf der Bühne finden, um Teil dieser Party zu sein.
Dieser „Hamlet“, in dem acht wunderbare Schauspieler*innen sowohl ihre eigenen Erfahrungen eines Lebens mit Down-Syndrom als auch die Gesellschaft hinsichtlich ihres Umgangs mit ihnen hinterfragen, schafft einen Raum für Sichtbarkeit, Solidarität und Empowerment. „Hamlet” des Teatro La Plaza verspricht seinem Publikum, am Ende dieses unglaublich unterhaltsamen Abends den Saal mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht und vielen Gedanken im Kopf zu verlassen. Und so wurde es für mich die intensivste Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sein und dem Nichtsein.