Die Inszenierung „Vertigo“ im Theater Thikwa startet am 14.11.2022 mit einer Ankündigung: Einer der vier Darsteller habe sich seinen Arm gebrochen, weshalb die Tanzszenen heute „nicht ganz so wild wie sonst“ ausfallen könnten.
Zu Beginn ist alles dunkel, zwei Menschen kommen auf die Bühne. Einer der beiden beginnt an einem DJ-Mischpult zu beatboxen. Dann folgt ein Hybrid aus Rap und schnellen, durchdringenden Tönen eines Klaviers. Die Musik wird immer weiter ausgetestet. Wie laut und intensiv kann sie werden?
An der Rückwand der Bühne hängt eine große Spirale, die sich dreht. Denn „Vertigo“ bedeutet Schwindel, und genau dieser Effekt wird anfangs zu erzeugen versucht, wenn sich die Spirale dreht und man von der Musik mitgerissen wird. Plötzlich wird der Bühnenraum hell, längs auf der Bühne sind einzelne Zauberwürfel aufgestellt. Die beiden Hauptdarsteller Max Edgar Freitag und Frank Schulz unterhalten sich: „Wie war eigentlich deine Schulzeit?“ Dann erzählen drei Darsteller gleichzeitig von ihren Erlebnissen. Es wirkt überfordernd, da man so niemanden wirklich verstehen kann. Vielleicht war die Schulzeit auch genau das für sie? Überfordernd? Irgendwann kehrt Stille ein, die Fragen gehen weiter: „Wie gehst du mit Drucksituationen um?“ So erhalten die Zuschauer*innen Einblick in die Gedankenwelt der beiden.
„Hast du Gefühle?“ Erst folgt eine längere Stille auf diese Frage, die einen gespannt warten lässt. Dann erklärt einer der beiden, dass es ihm schwerfalle, seine Gefühle auszudrücken. Daraufhin zeigen alle nacheinander dem Publikum gestisch überschwänglich verschiedene Emotionsausdrücke und erklären diese. Zum Beispiel bedeutet ein stark verzerrtes Gesicht bei parallelem Bauchreiben das Gefühl starker Übelkeit.
Es fallen auch Sätze, die mich zum Nachdenken bringen: „Autismus ist wie ein Computerspiel, aus dem man nicht rauskommt“ oder „Die schauen lieber, was bei uns nicht stimmt, wir gucken lieber, was bei denen anders ist.“ Das Gespräch von Frank und Max wird immer wieder durch kurze Pausen unterbrochen, in denen beispielsweise die Würfel auf der Bühne nach Farben angeordnet werden, eine Tanz-Session eingelegt wird oder kurze Gaming-Sessions stattfinden. Sie erklären, dass sie diese Pausen brauchen. Mittelpunkt der Inszenierung ist das Gespräch der beiden über die Autismus-Spektrum-Störung.
Max und Frank erklären in ihrem Frage- und Antwortspiel spielerisch, wie sich Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in ihrem Alltag fühlen. Max spricht davon, dass er sich schnell in Sachen verliert und es ihm schwerfällt, aus einer Tätigkeit herausrauszukommen, da er dann alles andere als Störung wahrnimmt. Um dies zu demonstrieren, spielt er mit einer Puppe und als ihn sein Gegenüber anspricht, fängt er an zu schreien. Wie vorher erklärt, ist es für ihn schwierig, abgelenkt zu werden.
Um zu zeigen, wie unterschiedlich die Symptome von Autismus ausfallen können, kommt auch eine neue Person namens Guido ins Spiel. Von Guido wird erzählt, er sei sehr perfektionistisch und es falle ihm schwer, sich von Dingen zu trennen. Am Ende halten sich alle Darsteller Glasplatten vor die Gesichter, die ihre Sicht und für uns auch ihre Ansicht verzerren. Vielleicht ein Hinweis darauf, wie anders die Welt aussehen kann, wenn man einen Perspektivwechsel ausmacht? Oder auch ein Bild dafür, wie sie die Welt wahrnehmen und wahrgenommen werden?
„Vertigo“ macht uns Zuschauer*innen auf Schwierigkeiten aufmerksam, auf die Menschen auf dem autistischen Spektrum im Alltag stoßen. Es ist bewundernswert und lehrreich, wie die beiden Protagonisten einen Einblick in ihre Privatsphäre gewähren und spielerisch erklären, wie sie sich in bestimmten Situationen fühlen. So wird ermöglicht, dass sich Zuschauer*innen einfühlen können. Die Begleitung des Abends mit kleinen Musik- und Tanz-Performances lockert die Atmosphäre in sehr angenehmer und mitreißender Weise auf. Menschen, die Lust haben, sich auf neue Sichtweisen einzulassen, werden durch diesen Abend definitiv ihren Horizont erweitern können.