Sieben Kapitel zu Intimität und Freundschaft

Der Abend beginnt in entspannter Atmosphäre. Im Theater Thikwa ist keine klassische Bühnensituation aufgebaut, alle drei Performer*innen sitzen vorne auf vier zusammen geschobenen Matratzen, die mit glänzendem Stoff überzogen und von weißen Fellteppichen gesäumt sind. Es gibt die Möglichkeit, sich ganz in die Nähe der Performer*innen zu setzen. Die Mehrzahl der Gäste sitzt aber etwas oberhalb der Performer*innen auf den Tribühnen im Zuschauerraum. Bevor es los geht, spricht eine der Performer*innen – Kim Ramona Ranalter – das Publikum direkt an. Sie lädt dazu ein, sich näher an die Bühne zu setzen. Mit den Worten „Wir freuen uns, mit euch die nächste Stunde zu verbringen“, beginnt die Performance „Scores that shaped our friendship“, eine Produktion der Münchner Kammerspiele, die 2021 bereits zum Berliner Theatertreffen eingeladen war.

Lucy Wilke sitzt angelehnt an Paweł Duduś. Beide beschreiben die Bewegungen ihrer Hände und führen diese synchron aus. „Ich strecke meine linke Hand aus“, sagt eine*r der beiden und danach „Meine linke Hand ist runtergefallen“ und beide lassen die Hände gleichzeitig fallen. Ab da schwillt die Musik an. Wir hören intensives Atmen der beiden. Über die Musik legt sich ein Text, der von Körperbewusstsein handelt. „Sometimes I forget my right hand“, sagt Lucy Wilke. Trotz unterschiedlicher körperlicher Voraussetzungen kennen sicherlich viele Menschen im Publikum das Gefühl, wenn man mal den eigenen Körper oder einen Teil davon vergisst oder nicht mehr ganz bewusst wahrnimmt.

Lucy Wilke (li) und Paweł Duduś (re) in „Scores that shaped our friendship“; Foto: Holger Rudolph

Das Spiel zwischen Paweł Duduś und Lucy Wilke dominiert den Abend. Er bewegt ihren Körper, legt ihre Beine zu einem Schneidersitz und führt mit ihr auf seinem Körper verschiedene Bewegungen aus. Teils sind das Bewegungen wie das gemeinsame Hin- und Herschwingen im Schneidersitz, teils sind es auch sexuell konnotierte Bewegungen. Etwa wenn Duduś Wilkes Kopf auf den unteren Teil seines Bauches legt und sich auf dem Rücken liegend schnell nach vorne und zurück bewegt, während im Hintergrund erneut anschwellende Atemgeräusche mit elektronischer Musik eingespielt werden. „Touch as language, a language we speak very well“, hört man wenig später die Stimme von Duduś, die aus der Soundanlage dringt.

Die Performance ist in sieben Kapitel aufgeteilt, jetzt beginnt Chapter Two. Paweł Duduś legt Lucy Wilke seitlich auf die Matratze und legt ihr ein Mikrofon vors Gesicht. Er selbst läuft ins Publikum, wo ein weißes Sofa mit Fellteppichen steht. Er bewegt sich plötzlich wie ein Puma und fokussiert Lucy, die sein „physically disabled target“ darstellt, wie wir später erfahren. Der zum Puma gewordene Duduś sprintet zu ihr und fragt sie: „How would you like me to rip you apart?“, was einige Lacher im Publikum provoziert. Paweł nähert sich Lucy daraufhin schnell und beißt sie tatsächlich. Er beißt in ihren Arm und hebt ihn leicht hoch, danach lässt er ihn wieder fallen. Das passiert noch einige Male, dann ist dieses Kapitel zu Ende. Im nächsten Kapitel stößt Kim Ramona Ranalter hinzu, die bisher für die Musik verantwortlich war. Alle drei umarmen sich fest und schwingen rhythmisch zur Musik nach vorne und hinten. Dabei reichen sich alle drei eine Süßigkeit, Paweł isst sie aus Lucys Hand, danach wird der Rest über den Performer*innen ausgeschüttet. Das Ganze wirkt sehr intim und intensiv und lässt sich vielleicht am besten mit einer „Kuschelorgie“ beschreiben.

Man sieht ein Sofa auf dem weiße Fellteppiche liegen. Pawel Duduś läuft auf alle vieren über das Rückenteil des Sofas, dabei hat er den linken Arm leicht gehoben und erinnert durch seine Körperhaltung an einen Puma. Sein Blick geht nach links.
Paweł Duduś in Puma-Pose; Foto: Holger Rudolph

Im nächsten Kapitel zieht Duduś Wilke an, setzt sie in ihren Rollstuhl und küsst sie, während er sich um sie dreht und sie die Drehung mit ihrem Rollstuhl unterstützt. Danach fragt Paweł Lucy ganz leger: „Und wie läuft es eigentlich an der Dating-Front?“ Sie erzählt davon, dass sie ein bisschen tindert und ihr immer gesagt werde, dass sie ein hübsches Gesicht habe. Darauf zieht Duduś Wilke eine Nylonstrumpfhose über das Gesicht und schminkt sie. Nachdem er die Nylonstrumpfhose in alle Richtung gezogen hat, zieht er sie wieder ab und Lucy hat ein farbverschmiertes Gesicht. Dies könnte eine ironische Anspielung auf den bei Tinder u.Co. geltenden Schönheitswahn sein.

„I really like spending time with you because we know each other for what we are“, sagt Duduś und zieht sich aus, bis er komplett unbekleidet mit dem Rücken zum Publikum steht. Nachdem Wilke ihn auffordert, „das Grüne mit den Schmetterlingen“ zu tragen, zieht er sich einen grünen Body und schwarze Plateauschuhe an. Er tanzt lasziv für sie, rollt sich über die Matratze und wackelt mit seinem Po, bis er sich schließlich zu ihr auf den Rollstuhl setzt und Lucy ihn über die Bühne fährt. Die Performance endet damit, dass sich beide vorstellen, über Häuser springen zu können, während Paweł auf Lucys Schoß liegt.

Intimität durchzieht als Thema die Performance „Scores that shaped our friendship“. Sei es das gemeinsame Umarmen der drei Performer*innen, das engumschlungene rhythmische Bewegen von Lucy Wilke und Paweł Duduś zur Musik, das Tanzen vor- und füreinander. Berührungen der beiden Performer*innen bilden einen großen Teil der Performance. Mal zum Helfen, wenn etwa Paweł Lucy anzieht, mal in einem intimeren Kontext, beispielsweise wenn sich die beiden küssen. Da an diesem Abend so unterschiedliche Formen der Intimität gezeigt werden, frage ich mich, welche Rolle Berührungen in meinem Alltag eigentlich einnehmen.

Die Performance ist durch die Einteilung in sieben Kapitel übersichtlich gestaltet, teilweise kommen mir die einzelnen Scores etwas willkürlich vor, im Sinne eines für mich fehlenden Zusammenhangs zwischen den verschiedenen Kapiteln. Warum sieht man etwa, dass die beiden sich küssen und danach geht es schlagartig um Tinder und das Dating-Leben von Lucy? Geht es um eine offene Liebesbeziehung oder um Freundschaft als Beziehung? Mich lassen diese Fragen am Ende etwas ratlos zurück. Als Paweł zum Schluss neben Lucy eine Art Kopfstand an der Wand macht und rhythmisch seinen Po bewegt, während Lucy im selben Rhythmus ihren Kopf bewegt, frage ich mich, warum genau dieser Score für das Ende gewählt wurde.