„Ôss“ von Marlene Monteiro Freitas und Dançando com a Diferença wurde am Mittwoch zur Eröffnung von NO LIMITS im HAU 1 aufgeführt und sorgte für einen intensiven und überwältigenden Festivalauftakt. Die Choreographin spielt mit einer Vielzahl an Kostümen, lauter Musik und absurden Szenen. Außerdem gibt es Anspielungen auf die biblische Geschichte der Salome. Dabei passieren so viele Dinge gleichzeitig auf der Bühne, dass es als Zuschauende*r fast unmöglich erscheint, alles aufzunehmen. Mit der Bildfülle umzugehen, stellt sich bald als Herausforderung dar.
Der Vorhang ist noch geschlossen, als Bernardo Graça in glänzend-blauer Vintage-Sporthose erscheint und einen pulsierenden, afrobeatartrigen Remix von „The lion sleeps tonight“ auflegt. Unvermittelt werde ich von der high energy Graças mitgerissen, die in Sekunden jede Ecke des Saals füllt. Graça skandiert immer wieder ins Mikro, das Publikum wiederholt die Phrasen und feuert Graça bei verschiedenen Aktionen wie z.B. Dehnübungen an, bis sich der Vorhang öffnet.
Acht Perfomer*innen befinden sich im Freeze auf der Bühne verteilt. Sie alle tragen unterschiedliche Kostüme, einige davon erinnern an Berufe des öffentlichen Dienstes wie Ärzt*innen oder Schiffskapitän*innen. Eine Person (Maria João Pereira) trägt einen goldenen Morgenmantel und mittig der Bühne befindet sich eine weitere (Mariana Tembe) in einer silbernen Wanne, die mit weit aufgerissenen Augen ins Publikum blickt.
Mit Trompetenfanfaren wird eine zeremonielle Stimmung erzeugt. Zu einer eingespielten Arie aus der Oper „Salome“ beginnen alle, sich zu bewegen und allerlei verschiedene Dinge zu tun – so als wären sie Teil eines Wimmelbilds. Der Kontrast zwischen der klassischen Musik und den absurden, schwer lesbaren Szenen verstärkt sich, als eine Geburt inszeniert wird. Die gebärende Person liegt auf einer Art Krankenbett und schreit schmerzlich, während zwei Hebammen auf eher komödiantische Weise die Geburt begleiten. Ein Baby ist nicht zu sehen.
Währenddessen hat sich die Performerin aus der Wanne (Mariana Tembe) in eine Polizeiuniform gekleidet; es wird sichtbar, dass ihre Beine etwa ab der Hälfte des Oberschenkels fehlen. Tembe schreit wütend Richtung Publikum ins Mikrophon. Als sie anschließend die Uniform auszieht und darunter ein glänzend-türkisfarbener Body zum Vorschein kommt, bewegt sie sich zwischen dem vermeintlichen Chaos der anderen, macht ein paar Turnübungen an einer Stange oder legt sich zur Frau im Morgenmantel (Maria João Pereira).
Diese hält ein Messer in der Hand und fuchtelt damit herum, hält es über Tembes Haupt, welche daraufhin in schallendes Gelächter ausbricht und dabei mit dem Körper wackelt. Durch die Salome-Referenz lässt sich vermuten, dass auf Abtrennung eines Körperteils angespielt wird. Vielleicht ist die Maria João Pereira Prinzessin Salome? Und die Wanne vom Beginn eine Variante jenes Silbertabletts, auf welchem Salome der eingeforderte Kopf von Johannes dem Täufer serviert wird? Im Verlauf wird Pereiras Salome Tembe verhaften, was erneut mehr Fragen als Antworten aufwirft.
Fast jede*r Performer*in wechselt mehrmals offen das Kostüm, ohne die Bühne zu verlassen. Abgelenkt durch die vielen parallel ablaufenden Handlungen bekommt man diese Verwandlungen kaum mit. Dann stecken Pappbecher im Mund der Schiffskapitän*innen und werden im Rhythmus bewegt wie Schnäbel. Mich erinnert dieses Gefühl der Überforderung an den Trubel unseres heutigen Zeitgeists. Vieles scheint nicht zu deuten oder zu verstehen, auch weil es zu schnell geht, die Sinne überfordert.
Bei der Einführung zum Stück wurde das Publikum ermutigt, aktiv zu sein. Das muss man auch, bei diesem einzigartigen Zusammenspiel aus Musik, Theater und Tanz. Freitas sagte in einem Interview, dass sie in ihren Arbeiten nach „Intensität“ suche. An diesem Abend hat sie die in der Zusammenarbeit mit dem mixed abled-Cast der Dançando com a Diferença aus Madeira ohne Zweifel gefunden! Lässt man sich von all den möglichen Bedeutungsebenen, Symbolen und Anspielungen zu sehr aufhalten, wird man schnell verunsichert und kommt aus dem Flow. Warum nicht selbst zwischendurch ein bisschen laut sein, mit Sitznachbar*innen interagieren, den Emotionen freien Lauf lassen und das Geschehen genießen?