„Was tun wir, wenn wir einander Geschichten erzählen?“

Luzie Spangenberg: Wann war Ihre erste Berührung mit dem Theater und dem Schreiben für die Bühne?

Magdalena Schrefel: Ich glaube, ich bin in dem Sinne eine eher untypische Theaterautorin, weil ich nie selbst Theater gespielt oder am Theater hospitiert habe. Aber gleichzeitig als Autorin in der ersten Schreibwerkstatt, die ich besucht habe, sofort an einem Theaterstück mitgearbeitet habe. Das war vor vielen Jahren, als ich Anfang 20 war. Wir waren eine Gruppe von  15 Leuten, die zwischen 13 und 25 Jahren waren und haben Texte zum Thema Liebe und Sexualität geschrieben. Aus diesen Texten wurde eine Stückfassung kompiliert, was auch als Jugendtheaterstück aufgeführt worden ist. Ich glaube, ich habe einfach gemerkt, dass ich gerne Dialoge schreibe und dass ich gerne höre, wie Menschen miteinander sprechen.

Luzie Spangenberg: Wie gehen Sie beim Schreiben vor? Wie kommen die Themen oder Stoffe zu Ihnen?

Magdalena Schrefel: Da würde ich mich auf „Die vielen Stimmen meines Bruders“ konzentrieren, das ist leichter. Es hat tatsächlich seinen Ausgangspunkt in Berlin genommen, weil einer meiner jüngeren Brüder zu Besuch war. Das ist der jüngere Bruder, der auch Co-Autor des Stückes ist, Valentin Schuster. Wir haben uns damals unterhalten, dass es sein kann, dass er aufgrund seiner Behinderung perspektivisch auf Sprachassistenz angewiesen sein würde. Als er das erzählt hat, ist etwas Interessantes passiert. Er hat nämlich nicht das Gerät in den Vordergrund gestellt, sondern die Tatsache, dass man sich eine Stimme aussuchen könne. In diesem Moment ist passiert, was wahrscheinlich immer passiert, wenn ich eine Idee habe: es entsteht eine Form von Resonanz. In mir geht eine Stimme an, die anfängt, Fragen zu stellen, Sätze auszuprobieren und sich in eine Idee hineindenkt.

Luzie Spangenberg: „Die vielen Stimmen meines Bruders“ ist zunächst als Hörstück entstanden. Wie kam es dazu, auch eine Bühnenversion zu erstellen?

Magdalena Schrefel: Es war von Anfang an als Bühnen- und Hörstück geplant worden. Es ist ganz interessant zu überlegen: Wenn man mehr als eine Stimme hätte, wie würde man das verkörpern? Ist es sogar leichter es „entkörpert“ zu erzählen? Das Hörspiel hat die Möglichkeit, allein durchs Sprechen Figuren ‚sichtbar‘ zu machen und das ist schon einmal ein großer Unterschied zur Bühne. Ich habe Marie Bues angesprochen, eine Theaterregisseurin, mit der ich bereits zusammengearbeitet habe. Über sie kam dann eine Kooperation mit dem Kunstfest Weimar zustande. Parallel kamen Deutschlandfunk Kultur, das Kosmos Theater Wien und das Schauspielhaus Wien dazu. Für die Theaterproduktion haben Marie Bues und Anouschka Trocker gemeinsam mit den Spieler*innen geprobt. Anouschka Trocker ist nach der Uraufführung dann mit den Spieler*innen Florentine Krafft und Leonard Grobien ins Studio gegangen. Es sind also die gleichen Sprecher*innen, auch die gleiche Musik. Im Endeffekt sind „Die vielen Stimmen meines Bruders“ aus einer gemeinsamen Arbeit entstanden.

Magdalena Schrefel, Foto: Stefanie Kulisch

Luzie Spangenberg: Waren Sie als Autorin auch bei den Proben dabei?

Magdalena Schrefel: Teilweise ja, aber nicht die ganze Zeit. Denn wenn man für das Theater schreibt, muss man irgendwann auch abgeben und sagen „Ich habe meinen Teil getan“. Es gab aber eine gemeinsame Auftaktprobenwoche in Berlin. Es war eine sehr bereichernde Erfahrung für mich, weil wir wirklich in verschiedenen Konstellationen die Rollen gelesen und über einzelne Aspekte geredet haben. Auch mein Bruder Valentin Schuster war bei einigen Proben dabei. Wir haben den Prozess schon intensiv begleitet. Auch wenn der Text fiktional ist und keiner der Dialoge in diesem Stück so stattgefunden hat, war uns das wichtig.

Luzie Spangenberg: Was bedeutet es für Sie, eine eigene Stimme zu haben und diese zu nutzen?

Magdalena Schrefel: Ich glaube, ich habe tatsächlich noch nie so viel wie bei diesem Stück darüber nachgedacht habe, dass ich eine Stimme habe; im Abgleich damit, was mein Bruder erlebt und was der Text als Geschichte erzählt. Eine Stimme zu haben und dadurch eine Geschichte erzählen zu können – das war mir als Autorin ein wichtiges Anliegen, da in der Geschichte viel drinsteckt. Es war mir aber auch als ältere Schwester ein Anliegen, diese Stimme, die ich habe, zu nutzen, um der Geschichte meines Bruders Gehör zu verschaffen.

Luzie Spangenberg: Was waren die Herausforderungen beim Schreiben über einen der eigenen Brüder?

Magdalena Schrefel: Die Figuren in dem Stück heißen Mein Bruder und Seine Schwester, es ist also eine gegenseitige Bezeichnung, eine gleichwertige, wenn man so will: Wer bin ich zu dir, wer du zu mir? Das war uns wichtig. Dass es gelungen ist, rührt vor allem daher, dass wir einander vertraut haben. Ich glaube, mir war schon bewusst, dass das auch ein heikles Unterfangen ist – und dass es immer darum geht, dass mein Bruder sich wohlfühlt mit dem, was wir machen. Was wir konkret gemacht haben, war, dass ich mir Dinge ausgedacht habe und er der erste Leser war, der sagen konnte: „Find ich interessant“ oder „finde ich nicht so interessant“. Über das Ausdenken von Dingen wurde es überhaupt erst möglich, das zu trennen.

Luzie Spangenberg: Wie war die Zusammenarbeit mit Valentin Schuster? Hat ihm die Inszenierung gefallen?

Magdalena Schrefel: Ich glaube, dass die Entscheidung, dass es eine fiktive Geschichte ist und niemand von uns mit auf der Bühne steht, richtig war. Es war uns beiden wichtig, das in eine Form in der Inszenierung zu bringen, in der immer klar ist, es sind zwei Schauspieler*innen, die einer Geschichte Aufmerksamkeit schenken.

Luzie Spangenberg: Was unterscheidet „Die vielen Stimmen meines Bruders“, zu anderen Arbeiten von Ihnen? 

Magdalena Schrefel: Was alle meine Texte verbindet, ist die Frage danach, was wir tun, wenn wir einander Geschichten erzählen. Das hat in meinem ersten Stück „Sprengkörperballaden“ schon eine Rolle gespielt, da im weitesten Sinne Mädchen und Frauen einander von Gewalterfahrungen berichten. Es stellt sich die Frage, inwiefern wir auch Gewalt aneinander ausüben, wenn wir einander von dieser Gewalt erzählen. Das ist eine Frage, die mich wirklich immer beschäftigt: Was tun wir, wenn wir einander Geschichten erzählen?

Luzie Spangenberg: Die Aufführung war bereits beim „Grenzenlos Kultur“-Festival in Mainz zu sehen, kommt eigentlich aus Wien und ist nun beim NO LIMITS-Festival in Berlin. Reisen Sie immer mit?

Magdalena Schrefel: Nein. Was an „Die vielen Stimmen meines Bruders“ so schön ist, ist, dass es viele Einladungen gab, an unterschiedlichen Orten zu spielen. Und ich habe den Eindruck, unterschiedliche Leute reisen jedes Mal mit. Mal ist es jemand vom Regieteam, mal ist es jemand aus der Dramaturgie, dann war mein Bruder mit dabei. Und so würde ich sagen, es ist ein bisschen so als wäre „Die vielen Stimmen meines Bruders“ ein Kind, das sehr viele Eltern hat und alle tragen Sorge, dass es immer gut begleitet wird.

Luzie Spangenberg: Und zuletzt, nehmen Sie Unterschiede wahr, wie Zuschauer*innen das Stück aufnehmen?

Magdalena Schrefel: Nein, das könnte ich gar nicht sagen. In Weimar war es eher ein Festivalpublikum. Festivalpublikum bedeutet, dass nochmal viele andere Künstler*innen anwesend sind, weil sie selbst eine Arbeit zeigen und sich andere Produktionen anschauen. Die Aufführungen in Wien, die ich gesehen habe, waren auch geprägt von Familie und Freund*innen, die kommen. Heute in Berlin freut mich, dass nun einige Leute, die ich kenne, die bisher noch nicht die Möglichkeit hatten, es sich nun anschauen können.

Luzie Spangenberg: Vielen Dank für das Interview!